Sonntag, 5. Mai 2024

Abschied von Bürgerrechten: Mehr Misstrauen wagen

Der Klassiker, auf den sich die kommende Große Koalition nach dem EuGH-Urteil schnell einigen wird: Vorratsdatenspeicherung ist unerlässlich.

Die Bundesinnenministerin vermied jedes Triumphgeheul. Geradezu sachlich reagierte die sonst so leidenschaftliche agierende Sozialdemokratin auf die guten Nachrichten vom Europäischen Gerichtshof, der nach Jahrzehnten, in denen er sich verstockt vor die Bürgerrechte gestellt hatte, endlich Einsicht zeigte. Ja, die Vorratsdatenspeicherung, sie darf und sie wird kommen. Ja, bei sorgfältiger Beachtung gewisser nachgelagerter Vorschriften ist es mit den unveräußerliche Grundrechten vereinbar, jedermann jederzeit an jedem Ort und bei jeder Art der Kommunikation mit irgendwem zu beobachten, die Daten aufzuzeichnen und zu speichern.

Der Weg zur Überwachung

Der Weg sein nun frei, kommentierte die Innenministerin, die den titanischen Kampf ihrer Vorgänger um mehr und gründlichere Überwachung der Bürgerinnen und Bürger vom ersten Tag im Amt an mit allem Nachdruck fortgesetzt hatte.  Mochten die höchsten Richter Europas die anlasslose Vorratsdatenspeicherung auch in Deutschland immer für rechtswidrig erklärt haben. Die gelernte Rechtsanwältin aus Bad Soden wusste es besser: Jemanden ohne jeden Anlass zu überwachen, sein Kommunikationsverhalten auf Vorrat abzuspeichern und die Daten gegen ihn zu verwenden, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, das ist auch grundrechtlich machbar, wenn die Begründung nur gewitzt genug formuliert wird.

Und recht hat sie behalten, die 53-Jährige, die sich weder von Gerichtsurteilen noch von den widerstrebenden Kollegen in den anderen EU-Werteländern je irritieren ließ. Konservative Blätter schimpfen sie "verwirrt", progressive Verteidiger der Verfassung "feige". Mit ihrer wesenseigenen Mischung aus Geduld und Ignoranz, Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit auch vor mehreren Blamagen hintereinander gelang es Nancy Faeser schließlich, dem Ziel der Träume aller Bundesinnenminister seit Gerhart Baum einen entscheidenden Schritt näherzukommen.

Die Speicherung kommt

19 Jahre nachdem das Landgericht Darmstadt mit seinem historischen Urteil vom 7. Dezember 2005 dem halbstaatlichen Anschlussanbieter T-Online eine "über die Dauer der Verbindung hinausgehende Speicherung der Verkehrsdaten" verboten hatte, kehrt sie endlich zurück: War ein Internet-Anbieter seitdem nicht mehr berechtigt, Angaben zu speichern, die eine Verbindung zwischen der zugeteilten IP-Adresse und dem Nutzer herstellen, wird ihm das nun als Pflicht auferlegt. Jeder steht unter Verdacht. Jedem muss im Bedarfsfall etwas nachgewiesen werden können.

Bald schon, denn auch wenn Faeser ihren Sieg nicht laut feierte, interpretierte sie das Urteil des EuGH doch sofort bis an den Rand des Möglichen. Der Gerichtshof habe "deutlich entschieden, dass eine Pflicht zur Speicherung von IP-Adressen zur Verbrechensbekämpfung nicht nur ausdrücklich zulässig ist, sondern auch zwingend erforderlich ist". 

Schön sei auch, dass dem jetzt aufzubauenden Überwachungssystem erlaubt sein werde, nicht nur beim Verdacht schwerer Straftaten in Aktion zu treten, sondern vorhandene oder anfallende IP-Adressen beim Internetanbieter abrufen zu können, wenn es einen Verdacht auf irgendetwas gebe. Noch muss diese Verwendung von Daten von einem Richter angeordnet werden. Aber da ist noch Luft. Das muss sicherlich nicht so bleiben.

Jeder ein Täter

Denn mit dem Europäischen Gerichtshof ist der hartnäckigste Gegner der Überwacher umgekippt. Zwar hatte auch das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung als verfassungswidrige verworfen, doch erst die Richter in Luxemburg schafften es, die große Koalition der Demokraten von SPD über die Grünen bis zur CDU/CSU zu stoppen. Ausschlaggebend war das Argument des Generalverdachtes: Ohne konkreten Tatverdacht darf der Staat nicht auf den besonders geschützten Kern der privaten Lebensführung schauen, zu dem nach seiner eigenen Definition eben auch die IP-Adresse gehört. Dass er dennoch unaufhörlich versucht, sich dieses Recht zu verschaffen, zeigt weniger, wie gefährlich die Bürgerinnen und Bürger sind, als wie misstrauisch gewählte Volksvertreter sie belauern und beargwöhnen. Jeder ein Täter. Jeder gründlich zu bewachen.

Zwar hat der EuGH mit seinem Urteil nur eine Regelung aus Frankreich durchgewunken, doch im Bundesinnenministerium, in der SPD-Zentrale und bei der Union scharren schon die Füße. Wenn der Zugriff auf personenbezogene Daten in Frankreich schon bei unwesentlichen Verstößen wie Urheberrechtsverletzungen erlaubt ist, weil "ein solches System nicht zwangsläufig einen schweren Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen darstellt" (EuGH), dann wird man sich in Deutschland spätestens nach der Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD im Herbst kommenden Jahres schnell darauf einigen können, wieder alle Daten von allen Internetnutzern vorsorglich zu speichern, um später Täter im Fall aller Arten von Straftaten erwischen zu können. 

Das Medienecho in Deutschland spricht dafür, dass gar nichts dagegenspricht.

Wenn die Wirklichkeit siegt: Hamburger Messerwunder

Das Fake-News-Portal Correctiv würde es zweifellos schaffen, aus diese Kurve wegzuerklären. Derzeit verzichten die Spezialisten darauf allerdings ebenso wie die ARD-Faktenerfinder.


Niemand wusste es genau. Niemand wollte es allzu genau wissen. Was man nicht weiß, macht niemanden heiß. Es war sicher nur ein Eindruck, befeuert von Fake News vom rechten Rand. möglich, dass auch die Sensationsgier der Medien eine Rolle spielte. Und eine unversehens  entstandene neue Aufmerksamkeit für etwas, was immer schon war, nur unbeachtet geblieben.  

Ja, als alles losging mit den Medien und den Messern, überschlugen sich die Meldungen. "Kaum ein Tag in Deutschland vergeht ohne einen Messerangriff oder eine Messerstecherei", bemerkte die amtliche Nachrichtenagentur DPA und fragte verwegen: "War das schon immer so?" Oder liegt es nur an einer "Orientierung an Männlichkeitsnormen"? Oder nimmt die Zahl der Attacken zu? Allenfalls "scheinbar" war der WDR sicher. Die "Tagesschau" verwies stolz auf eine unzureichende Datenbasis. Niemand könne etwas behaupten, weil die Statistiken "defizitär" seien, versicherte der unbestechliche "Faktenfinder" Patrick Gensing zufrieden. 

Beteuerungen vom Fake-News-Portal

Das bekannte Fake-News-Portal Correctiv wusste es sogar noch genauer. "Von einem ,dramatischen` Anstieg oder einer „Messer-Epidemie“ in Deutschland kann nicht die Rede sein", hieß es in der Wahrheitszentrale der Republik. Nur ein "Anstieg in vielen Bundesländern" sei "zu vermerken". Gehen Sie bitte weiter. Mehr ist es nicht. Correctiv war schließlich zum Schluss gekommen: "Von einem dramatischen Anstieg von Messer-Attacken kann allgemein nicht die Rede sein."

Nun ist es so, dass die Gesellschaft sich stets passende Bezeichnungen sucht, wenn Sachverhalte auftauchen, für die es mangels Beschreibungsbedarf bis dahin noch keine gab. Das Wort "Messerattacke", im Duden nicht verzeichnet, begann seinen Siegeszug durch die Medienmoderne ganz zufällig in den Jahren, in denen Gensing, Correctiv-Chef David Schraven und der Rest der Leitmedienlandschaft alles daran setzten, das "Phänomen" (DPA) als Fehlwahrnehmung, rechtspopulistische Propaganda und Versuch der Delegitimierung der regierungsamtlichen Willkommenskultur zu beschreiben. 

Vor einem "gefährlichen Alarmismus", warnte die Taz. Mit der "Tagesschau" mahnte auch ein anderes regierungsnahes Zentralorgan zu einem "differenzierten Bild". Alle waren sich einig. Mag da auch etwas sein. Details könnten Teile der Bevölkerung beunruhigen.

Verteidigung der Macht

Wo es um die Verteidigung der Macht gegen die geht, die ihr Macht- und Tatenlosigkeit vorwerfen, darf die Hamburger "Zeit" nie fehlen. Früh schon verwies das Blatt engagiert auf "uneindeutige Daten, fragwürdige Behauptungen und das Fehlen wissenschaftlich haltbarer Belege".  Eine Kette von sogenannten "Einzelfällen" beweise gar nichts. Es sei nur ein Praktikant gewesen, der anderslautende Zahlen zusammengestellt habe. Damit sei die "Angst vor zunehmender Messergewalt", so die "Zeit",  "unbegründet". Das neumodische Determinativkompositum aus "Messer" und "Attacke", das plötzlich überall auftauchte, tat das letzten Endes aus purem Übermut und ohne jeden Sachgrund. 

Die Front hielt, die Verteidigung stand unerschütterlich von den sich häufenden Meldungen der Polizei. Sämtliche "Messerattacken" zusammen, alternativ auch als "Messergewalt" oder "Messerkriminalität" kategorisiert, machten weniger Schlagzeilen als Jahre zuvor das Kuchenmesserattentat auf den Passauer Polizeichef Alois Mannichl. Bis dann tatsächlich etwas zerbrach, irgendwo im Inneren der "Zeit". Was im Dezember 2022 "aus den Zahlen des BKA" noch nicht "abzulesen" war, entwickelte sich in den zurückliegenden zwölf Monaten zu einem Lieblingsthema der erfolgreichsten Wochenzeitschrift der Republik. 

Ein eigenes Spezialgebiet

Regelmäßig beschwören Schlagzeilen nun die entsetzlichen Statistiken, die vielen, vielen Opfer und die Verhältnisse, unter denen sich "ein ganz normaler Abend" in NRW mit einem Schlag in ein blutiges Desaster mit acht Verletzten und einem Toten verwandelt. "Messerkriminalität in Deutschland" ist für die verspätete Vierte Gewalt mittlerweile ein eigenes Spezialgebiet, das freilich von den DPA-Kollegen bespielt wird, deren Blick auf das Thema dem gesellschaftlichen Wandel auf gleiche Weise gefolgt ist. Wer heute noch mitreden will, der unterhält wie die "Tagesschau" und das ZDF einen eigenen Webbereich für "Messerattacke"

Wer dagegen wirklich treu zur Sache steht, der meidet jede Beschäftigung mit der Frage, wie sich eine Relativierung heute bewerkstelligen ließe. Und wer zeigen will, dass ihm die Realität gleichgültig war und gleichgültig bleibt, der bettelt nicht um Glaubwürdigkeit, sondern streitet sie einfach ab.

Samstag, 4. Mai 2024

Zitate zur Zeit: Die Mitmach-Verteidigung

Die Oderbrücken bereiten Sorge: Wenn der Russe sie zerstört, haben wir ein Problem.

Verteidigung ist nicht nur eine gesamtstaatliche Aufgabe, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche. Es kommt am Ende auch auf jeden einzelnen Bürger, jede einzelne Bürgerin an. 

Generalleutnant André Bodemann macht es große Freude, schneller fertig zu werden, als Putin denkt. Nur die Oderbrücken machen ihm noch Sorge.

EU-Schuldenregeln: Geldtopf ohne Deckel

Mit neuen Flexibelregeln gestattet sich die EU ab sofort einen noch tieferen Griff in den Schuldentopf.

Zum Schluss ging es rasend schnell. Kaum hatte das EU-Parlament den EU-Staaten einen Freibrief für die nächste Etappe der Staatsverschuldung gegeben, waren die frischen Flexibelregeln auch schon in trockenen Tüchern. Stolz vermeldeten die Agenturen die erfolgreiche Reform des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt, ehemals als Fundament der Geldunion gedacht, später aber durch dauerhafte Missachtung zur Lachnummer gemacht.

Die Sprachregelungen waren vom Europäischen Amts für einheitliche Ansagen (AEA) gleich mitgeliefert worden: Es handele sich um eine "Reform zur Begrenzung der Staatsschulden", eine Waffe gegen die "Austeritätspolitik", die Reform schreibe wie immer "Obergrenzen" für Schulden vor, bei Überschreitungen kämen weiterhin "Strafverfahren" infrage.  

Übersetzung aus dem Propagandistischen

Die Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech, eine intime Kennerin von Berliner Bühne und Brüsseler Blase, übersetzt seit Jahren wegweisende EU-Papiere etwa zur "Just-Transition-Strategy" aus dem Politischen ins Deutsche. Die gebürtige Sächsin hat in Lyon und Klagenfurt Körpersprache studiert, sie versteht sich jedoch auch auf Simultanübersetzungen aus dem Propagandistischen. Für PPQ hat sich Hahnwech die Formulierungen aus dem AEA und der deutschen Bundesworthülsenfabrik angeschaut, mit denen der kurz vor den anstehenden EU-Wahlen exekutierte Beschluss, neue finanzielle Lasten ohne störende Diskussion auf den Schultern kommender Generationen abzuladen, verkauft werden soll.

PPQ: Frau Hahnwech, in den offiziellen Meldungen heißt es, die EU-Staaten erhielten nun etwas mehr Spielraum beim Schuldenmachen und Zurückzahlen. Wie ist das zu verstehen?

Hahnwech: Man muss das ganzheitlich sehen. "Etwas mehr" bedeutet im Politischen natürlich immer, dass es nie weniger als alles ist. Im Verfahrensverlauf dieser neuen Vorschriften für Staatsschulden und Haushaltsdefizite der Mitgliedsländer konnte man ja schön sehen, dass das alle ganz geräuschlos abräumen wollten. Mit Blick auf die Wahlen selbstverständlich, denn im Wahlkampf will sich niemand auf irgendwelche Sachdiskussionen einlassen, gar verschiedene Vorstellungen zur künftigen Entwicklung debattieren oder die Wählerinnen und Wähler entscheiden lassen. Das kann, da ist man sich in Brüssel wie in  Berlin sicher, immer nur nach hinten losgehen.

PPQ: Deshalb also haben EU-Parlament und EU-Ministerrat die sogenannten Reformpläne für den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt so schnell durchgewunken? Man hatte als Außenstehender doch eher den Eindruck, das sei nun mal eine gute Sache, alle einig und unterwegs in die richtige Richtung?

Hahnwech: Schauen wir uns doch einfach mal die derzeit laufenden Marketingmaßnahmen für diese  lange geplante und eigentlich ebenso lange vollkommen umstrittene Reform an. Da standen sich ja zwei Fronten gegenüber: Die einen wollten den ganzen Maastrich-Mist, wie sie es nennen, in die Tonne stopfen. Die anderen wollten wenigstens ein paar Regeln behalten, damit nicht alles ganz schnell außer Kontrolle gerät. Jetzt haben die ersten gewonnen, die zweiten aber haben erreicht, dass das löchrige Regelwerk jetzt verkauft wird als Paket, das die Budgetdisziplin der Länder sichern und damit solide öffentliche Finanzen garantieren soll. Nicht meine Worte, sondern ein Satz der EU. Übersetzt man das aus dem Propagandistischen ins Deutsche, steht da nichts anderes als dass Wörtchen soll.

PPQ: Was meinen Sie damit?

Hahnwech: Soll bedeutet nach den Grundregeln der Solltologie im Politikbetrieb immer, dass niemand es garantiert und niemand dafür geradestehen wird, weil, jeder weiß, dass es zwischen sollen und werden keinen inhärenten Zusammenhang gibt. Deshalb heißt es bei der protokollführenden deutschen Nachrichtenagentur DPA auch ausdrücklich, diese neuen Regeln gülten ,als wichtige Voraussetzung für die Stabilität in der EU und im Euro-Raum'. Meint: Sie sind es nicht. Schauen wir doch nur auf den Satz "Beim Übertreten bestimmter Obergrenzen können Defizitverfahren eingeleitet werden". Da haben wir eine Bestimmung mit ,können', früher sagte man Kann-Regel: Knallhart geht daraus hervor, dass ein Land Gegenmaßnahmen einleiten muss, um Verschuldung und Haushaltsminus zu senken, wenn es vorher allzusehr über die Stränge geschlagen ist. Und um das durchzusetzen hat sich die EU von den bisherigen Vorschriften getrennt, die dasselbe vorsahen, aber, so die offizielle Sprachregelung, "als zu kompliziert und zu streng angesehen" wurden.

PPQ: Das waren sie doch aber auch. 2002 bekam Deutschland noch einen vielbeachteten Blauen Brief aus Brüssel, aber danach stellte sich doch schnell heraus, dass die EU gar nicht das Personal hat, zu den ohnehin laufenden Hunderten von Strafverfahren gegen Mitgliedsländern auch noch gegen die Mehrheit der Staaten vorzugehen, die die Schuldenregeln dauerhaft verletzen.

Hahnwech: Deshalb hatte man ja die Pandemie als erste Gelegenheit genutzt, um diese Strafverfahren ungeachtet der Maastricht-Vorschriften auszusetzen. Zwar hat immer eine Mehrheit der EU-Staaten die Schuldenregeln missachtet, aber ab 2020 lagen die Staatsdefizite ja dann in fast allen EU-Ländern deutlich über der vorgeschriebenen Drei-Prozent-Marke. Damals fing man auch an, darüber nachzudenken, wie man so tun könne, als sei das eine Ausnahme, die nur ausnahmsweise akzeptiert werden, sich dabei aber die Möglichkeit verschafft, sie dauerhaft anzuerkennen, indem man die Regeln so ändert, dass sie sich an die Schulden anpassen und nicht umgekehrt.

PPQ: Und das ist nun gelungen?

Hahnwech: Das kann man sagen. Offiziell soll auch künftig in der EU gelten, dass das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen muss und der Schuldenstand eines Mitgliedstaates nicht 60 Prozent der Wirtschaftsleistung überschreiten darf. Wer das nicht schafft, kann aber anstelle von Sparprogrammen oder ähnlich ärgerlicher Dinge ab sofort Argumente anführen, warum die Regeln für ihn gerade nicht gelten können. Statt ihr Defizit mühsam abzubauen, reicht es, den Willen zu bekunden, in nächster Bälde damit anzufangen. Wobei jeder Regierungswechsel es erlaubt, diesen sogenannten Gnadenprozess neu zu beginnen.

PPQ: Im Fußball heißt das Zeitspiel. Aber irgendwann ist ja aller Erfahrung nach doch Schluss, oder?

Hahnwech: Für diesen Fall ist vorgesorgt. Muss die EU dann irgendwann doch zeigen, dass damit eines Tages Schluss sein muss, können die Mitgliedsstaaten weitere Zeit gewinnen, indem sie sogenannte "glaubhafte Reform- und Investitionspläne" vorlegen. Die schaut sich die EU-Kommission dann lange an, um es den Delinquenten leichter zu machen, kann sie bei Regierungen, denen sie gewogen ist, sogar die mutmaßliche künftige Zinsentwicklung gegenrechnen, so oder so. Und hilft das alles nicht, besteht die Möglichkeit, den Antrag zu stellen, den Zeitraum zur Schuldenverringerung zu verlängern. Das ist ausdrücklich ,mehrfach' möglich, wobei ,mehrfach' natürlich nach oben offen ist.

PPQ: Klingt nach Treibsand und nach Anarchie. Es ist doch kaum vorstellbar, dass solche windigen Regelungen als Ersatz für die zumindest auf dem Papier recht eindeutigen Maastrich-Kriterien durchgehen? 

Hahnwech: Ach, doch, daran bestand nie ein Zweifel. Selbstverständlich gibt es durchaus Kritiker der neuen Regeln betonen, aber die sind in sich gespalten. Die einen bemängeln, dass hier gerade die Bodenplatte für die nächste Staatsfinanzkrise gegossen wird. Den anderen aber geht die Aufweichung der Regeln auf einen symbolischen Rest nicht weit genug, sie würden gern gar keine Grenzen mehr haben, um sich mit Hilfe von Klimaschutz- und Transformationsinvestitionen noch schnell eine goldene Nase zu verdienen. Beide haben keine Chance, denn die Öffentlichkeit hat es am liebsten, wenn ihr konsequent etwas vorgemacht wird. Dass der Deckel jetzt vom Geldtopf ist, wird deshalb als  Wahrung der finanzpolitischen Stabilität bezeichnet, die selbst Fachleute verwirrende Vielfalt der Vorgaben, Ausnahmen und Antragsverfahren heißt ,klare Regeln für den Schuldenabbau', die im Ernstfall ,mit einer realistischen Perspektive durchgesetzt werden können'. Nicht meine Worte, sondern die des deutschen Finanzministers Christian Lindner. 

Freitag, 3. Mai 2024

Der feuchte Traum der Überwacher: Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Damals berichtete der "Spiegel" noch kritisch. Heute gar nicht mehr. Der feuchte Traum der Überwacher: Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Endlich einmal Grund zur Freude im politischen Berlin! Immer ging zuletzt alles schief, stets scheiterten die größten Pläne. Kaum wusste irgendwer in der Regierung mal, was eigentlich müsste, ließ irgendein Kabinettskollege sofort wissen, dass so auf keinen Fall gehen werde. Nun aber feiern sie alle, die SPD etwas lauter, die ehemaligen Bürgerrechtsparteien FDP und Grüne mit zusammengekniffenen Lippen. Hurra, Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Wenn der Wolfgang Schäuble das noch hätte erleben dürfen. Oder Sigmar Gabriel! Oder der Heiko Maas! Die Vorratsdatenspeicherung, sie war der feuchte Traum so vieler, vieler Innenminister, die sich von ihr erwarteten, was DDR-Stasiminister Erich Mielke in seiner Ermahnung an seine Männer zusammengefasst hatte: "Genossen, wir müssen alles wissen!" Wer wen, wann und wo, mit wem und am besten auch warum. Vor zehn Jahren hatte Thomas de Maiziere die Wiedereinführung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung in einem "Digitale Agenda" genannten Luftpaket versteckt, aber wieder war es schiefgegangen. Die Rechtslage. Die Grundrechte. Europa.

Nun endlich jedoch ist es von ganz oben bestätigt. Alles nicht so wild. Wer nichts zu verbergen hat. Das fällt ja alles auch unter den Datenschutz. Der Europäische Gerichtshof selbst, der dem guten Zweck der vollständigen staatlichen Überwachung immer im Wege gestanden hatte, straft sich selbst Lügen: Nun dürfen die Mitgliedstaaten der Werteunion, was sie schon immer wollten. Alles wissen. Alle speichern, auch ohne Verdacht und für alle Zeiten. Wissen ist Macht, mehr Wissen mehr Macht. Was man hat, das hat man. Wer weiß, wann man es einmal brauchen kann.

Im fünften Anlauf

Selbstverständlich wird die SPD, deren Interpretation der Grundrechte immer eine ganz eigene gewesen ist, nun alles dafür tun, dass die neue, nunmehr fünfte Vorratsdatenspeicherung im Einklang mit allen Vorstellungen des SPD-Vorstandes vom Schutz des Kerns der privaten Lebensführung steht. So sicher wie die deutsche Sozialdemokratie sich immer stark gemacht hat für ein betreutes Leben in fester Freundschaft mit dem russischen Volk, so entscheiden wird sie gewährleisten, dass IP-Adressen und übrige personenbezogene Daten getrennt werden, so dass "die Verwendung der Daten keine konkreten Rückschlüsse auf das Privatleben der Nutzer" zulässt.

Die Geheimdienste, womöglich sogar die deutschen, werden alle Informationen verfügbar haben. Dank der SPD aber ähnlich wie Facebook arbeiten: Reine Statistik, keine Gefahr, dass aus den gespeicherten Informationen keine Rückschlüsse auf das Privatleben der Menschen gezogen können. Beim besonderen Schutz der Daten von Minderjährigen, der dem Staat über viele Jahre hinweg aufgegeben war, hat das schon geklappt: Erst wurden die Daten gespeichert, obwohl es verboten war. Dann wurde es erlaubt.

Ein langer Atem

Es braucht einen langen Atem, die von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes errichteten Brandmauern zwischen staatlichen Allmachtsphantasien und Bürgerrechten zu schleifen. Der Staat ist hartnäckiger als alle seine Gegenspieler, er hat alle Zeit der Welt und die Geduld eines Giganten, der sich langsam bewegt, sein Ziel aber nie aus dem Blick verliert. 

"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt", hat der frühere EU-Chef Jean-Claude Juncker vor 25 Jahren ganz offenherzig geschildert, warum behäbige, aber brutal effiziente Bürokratie immer über Bürgerrechte siegt. Sie kann nicht nur warten. Warten ist ihr Lebensinhalt.

Und Widerstand hat sie nicht zu befürchten. Medien interessieren sich kaum für den Dammbruch, ein glücklicher Zufall wollte es zudem, dass eine mögliche Aufregung über den anstehenden erneuten Einbruch in die Privatsphäre von Millionen Bürgerinnen und Bürgern abgefedert wird durch ein besonders perfides Manöver Russlands: Danach wurde justament im Augenblick der Verwandlung der EU in eine Staatengemeinschaft mit ausufernder Überwachung bekannt, dass der Kreml die mit ihm so eng verbündete SPD mit einer Cyberattacke angegriffen hat. Wohl um seinen eingeschworenen Verbündeten in der ehemaligen Arbeiterpartei zu signalisieren, dass es Zeit ist, ihre Position bei Taurus und Kollegen zu überdenken.

EU-Flüchtlingsbremse: Was kostet der Libanon-Deal?

Die Willkommenseuphorie in der EU ist nun  auch offiziell abgeebbt.

Keinen Deut besser ist die Lage geworden, seit über den Krieg in Syrien nicht mehr berichtet wird. Immer noch fliehen die Menschen zu Tausenden aus den Krisengebieten in Nordafrika, sie versuchen ihr Glück über die Türkei und die Balkanroute oder sie wagen die Fahrt übers Mittelmeer.  

Ende der offenen Arme

Doch die offenen Arme, mit denen Europa die auf dem Höhepunkt der Willkommenseuphorie als "Schutzsuchende" bezeichneten Neuankömmlinge begrüßte, sie sind verschränkt. Das Reich der Träume von einer besseren Zukunft hat die Türen geschlossen, es spricht jetzt wieder von "Asylbewerbern", statt den respektvollen Begriff "Geflüchtete" zu benutzen. Und nicht nur deutsche, sondern auch europäische Politiker überbieten einander im Wettbewerb um die strengsten Maßnahmen und das Abschieben "im großen Stil". 

Nach Verträgen zur Abschottung, die die EU bereits mit Tunesien und Marokko abgeschlossen hat, folgt nun ein sogenannter Milliarden-Deal mit dem Libanon. Von dort aus machen sich immer mehr Schutzsuchende auf nach Zypern, der zur EU gehörenden Mittelmeerinsel, deren eine Hälfte der Nato-Partner Türkei völkerrechtswidrig besetzt hält. Die Boote aus dem Libanon nehmen Kurs auf die demokratische Seite des Eilands, dessen Regierung seit Jahresbeginn rund 4.000 ankommende Bootsflüchtlinge gezählt hat – deutlich mehr als vor einem Jahr, als nur 78 angekommen waren.

Flirt mit dem rechten Rand

Und viel zu viele, geht es nach der EU-Kommissionschefin, die nach der EU-Wahl im Juni gern eine zweite Amtszeit antreten würde und dafür auch bereit ist, mit dem rechten Rand zu flirten, wie es die Rheinische Post nennt. Nicht mehr die Not derer, die ihre Heimat verlassen, soll zählen, sondern der Wille derer, die schon in Sicherheit sind. "Es sind wir, die Europäer, die entscheiden, wer nach Europa kommt und unter welchen Umständen", hat von der Leyen anlässlich der Unterzeichnung der Vereinbarung mit dem Libanon wissen lassen. Eine Milliarde Euro will sich die Gemeinschaft die Flüchtlingsbremse kosten lassen - das ist beinahe doppelt so viel, wie die britische Regierung Ruanda als Lohn für das gemeinsame Abschiebeabkommen versprochen hat.

Dabei geht es um einen "Zustrom" (Angela Merkel) in ähnlichen Größenordnungen. Großbritanniens Premier Rishi Sunak will mit dem Ruanda-Plan die Zuwanderung über den Ärmelkanal stoppen: 4.600 Bootsflüchtlinge kamen in diesem Jahr über die schmale Wasserstraße in das vom Brexit verheerte Inselreich. Für die ausgelobte Summe soll das zentralafrikanische Land mit seinen 13 Millionen Einwohnern 300 Asylbewerber aufnehmen - Sunak spekuliert dabei natürlich nicht darauf, dass er ein paar hundert Zugeströmte loswird, sondern darauf, dass niemand mehr nach Großbritannien aufbrechen wird, wenn er fürchten muss, nach seiner Ankunft in Ruanda aufzuwachen. 

Methode Abschreckung

Funktioniert diese Methode der Abschreckung, würden sich die Kosten nicht auf 1,8 Millionen Pfund pro abgeschobenem Schutzsuchenden belaufen, sondern nur auf rund 40.000. Zum Vergleich: 2022 kosteten die rund 540.000 Empfänger von sogenannten Asylbewerberleistungen in Deutschland die Staatskasse pro Person und Jahr 12.000 Euro. Schon nach vier Jahren würde Sunak sparen.

Die EU würde gern auch, in Deutschland zumindest prüft Innenministerin Nancy Faeser das Ruanda-Modell schon seit Monaten. Aber niemand traut sich, weil die lange Bank allen Beteiligten attraktiver erscheint als ein kurzer Prozess. Seit vor mehr als einem Jahr einmal mehr eine gemeinsame europäische Lösung beschlossen wurde, diesmal unter der Überschrift "EU-Asylreform", ist der 2019 beschlossene "provisorische Verteilmechanismus für Flüchtlinge" nicht mehr letzter Stand. Aber die "beschleunigten Grenzverfahren an den "Außengrenzen" - gemeint war natürlich außerhalb des EU-Gebietes - sind nicht nur medial einen stillen Tod gestorben, sondern einer Umsetzung auch keinen Millimeter nähergekommen.

Neidischer Blick nach London

Neidisch schauen sie aus Brüssel und Berlin nach London, wo die ersten Abschiebeflüge bereits in zehn bis zwölf Wochen abheben könnten, um eines jener Zeichen zu setzen, für die eigentlich die EU und ganz besonders Deutschland bekannt ist. Wer kommt, ist schnell wieder weg, signalisiert Sunak in der Hoffnung, dass Schutzsuchende sich ein anderes Zielgebiet suchen, vielleicht gleich nebenan. Im EU-Mitgliedsstaat Irland wissen sie schon, was gemeint ist. 

Mit ihrer als "Unterstützungspaket" (BWHF) bezeichneten Flüchtlingsbremse reagiert die EU auf ihre Weise: Die Gemeinschaft, wer auch immer genau, wird der Regierung eines Landes, in dem Menschen wie Sklaven gehalten, queer lebende Bürger verfolgt und Grundrechte missachtet werden, nach den Buchstaben des "Pakts der Schande" (FR) rund eine Milliarde Euro dafür zahlen, dass sie ihr den lästigen Zustrom von Verfolgten des syrischen Diktators Baschar al-Assad vom Leibe hält. 

Der Syrienkrieg ist medial tot

Der könnte seiner medialen Präsenz zufolge inzwischen auch tot sein - das Überangebot an fürchterlichen Figuren hat den vor zehn Jahren noch schrecklichsten Despoten der Welt fast so vollkommen zum Verschwinden gebracht wie den Syrienkrieg, der all das Leid und all die Fluchtbewegungen ausgelöst hat. 

Die EU hat ebenso wie Deutschland aus jede Anstrengung eingestellt, mit dem im vergangenen Jahr in die Arabische Liga zurückgekehrten Regime in Damaskus auf eine Lösung der gemeinsamen Probleme hinzuarbeiten oder gar über die Rückkehr der Geflüchteten oder überhaupt über irgendetwas zu reden. Aller paar Monate verhängt die EU rituell neue Sanktionen gegen namenlose Beamte, anschließend verlängert sie die gegen das Regime selbst, und das alles bringt genauso viel wie zuvor: Nichts.

Warum also nicht dem Libanon, wie Syrien Gründungsstaat der Arabischen Liga, eine Milliarde geben, um "das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen" zu "stärken"? Warum nicht auch in Zeiten knapper Kassen dafür sorgen, dass die "Mittel für die Sicherheitsbehörden und die Streitkräfte" (DPA) des autoritären und korrupten Regimes "für den Kampf gegen Schleuserbanden" reichen?

Donnerstag, 2. Mai 2024

Zwei-Mann-Mob von Stolzenhagen: Waren es Klimakleber?

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt auf einem der ganz raren Fotos, die sie mit ihrem Klima-Fahrzeug zeigen. Im Brandenburgischen hinderte ein zwei-Mann-Mob sie jetzt an der Abfahrt. Abb: Aquarell Kümram

Nicht nur demonstrieren, sondern blockieren. Nicht mehr nur die eigene Meinung zu Markte tragen, sondern andere mit passiver Gewalt zwingen wollen, sich anzuschließen. Nicht mehr das eigene Leben ausrichten am eigenen Glauben, sondern das der gesamten Gesellschaft, wenn nicht freiwillig, dann eben mit sanftem Druck: Beinahe zwei Jahre lang verfolgte die Letzte Generation der Klimaprotestanten diese Strategie der Erpressung der Mehrheit durch renitente Aktionen. 

Der Körper als Waffe

Geschult am Vorbild etwa der revolutionären RAF machten die Aktivisten ihre Körper zur Waffe. Mit Hungerstreik und dem Festkleben auf dem Asphalt, aber auch mit der Strategie, den Rechtsstaat durch  illegale Protestaktionen herauszufordern, um ihn letztlich zu überfordern und damit zum Aufgeben zu  zwingen. Lange war das erfolgreich. Medien stürzten sich begierig auf die zumeist jungen und oft demonstrativ opferbereiten Teilnehmer an Klebeaktionen, Hungerstreiks und Gerichtsverfahren. Erst als sich der Nachrichtenwert der Aktionen verbraucht hatte, gab die Bewegung auf und verkündete wie so viele frühere engagierte Gruppe, nun auf den langen Marsch durch die demokratischen Institutionen gehen zu wollen.

Doch nicht alle wollen auf diese Weise aufgeben und den Kampf nur noch in den Parlamenten führen. Nach wie vor hungern einige unentwegte Aktivisten in Berlin für eine sofortige Klimarettung. Und auch in Brandenburg wendeten jetzt Demonstranten die bewährte Klimakleber-Strategie der Blockade an: Gezielt hinderten sie das Auto der wahlkämpfenden Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) an der Abfahrt aus dem kleinen Örtchen Lunow-Stolzenhagen im Oderbruch. Bereits zuvor war es im Umfeld der Veranstaltung zu einer Gegendemonstration und Störungsversuchen gekommen, berichtet die Bild-Zeitung. 

Wahrlich ein Herz für Proteste

Selbst Göring-Eckhardt, die aus der DDR-Bürgerbewegung kommt und wahrlich ein großes Herz für Proteste hat, wurde von den Ereignissen kalt erwischt. Vor dem Veranstaltungssaal hätten sich 40 bis 50 Menschen zu sogenannten "Gegenprotest" (Tagesspiegel) versammelt, die "Demonstrierenden" (Die Zeit) hätten die Spitzenpolitikerin nach der Veranstaltung auf dem Weg zu ihrem Fahrzeug bedrängt und dann an der Abfahrt gehindert.

"Mehrere Personen schlugen dabei in aggressiver Stimmung auf das Fahrzeug", teilte Göring-Eckardts Büro mit. Zwei 19 und 26 Jahre alte Aktivisten setzten sich zudem vor und hinter den Dienstwagen, so dass der "Mob" (Morgenpost) für eine gewisse Zeit die Kontrolle über die Situation übernahm. 45 Minuten lang wurde die frühere grüne Parteivorsitzende aufgehalten und daran gehindert, ihrer Arbeit nachzugehen.

Das Gleiche, ganz anders

Nach einer Mitteilung aus Göring-Eckardts Büro ist die Grenze des Zulässigen damit überschritten. Bei den Straßenblockaden der "Letzten Generation" seien zwar auch Verzögerungen entstanden und Rettungswagen blockiert worden. Doch weil die Aktivisten alles dafür getan hätten, dass sich Rettungsgassen bilden könnten, sei eine Debatte darüber müßig "angesichts der vielen Staus, die durch Autofahrer entstehen". 

Der Zwei-Mann-Mob von Lunow-Stolzenhagen habe mit einem ganz anderen Kaliber auf den gesellschaftlichen Frieden gefeuert: "Protest ist legitim, Bedrohung und Einschüchterung nicht." Es könne nicht sein, dass Demokratie-Veranstaltungen verhindert werden sollen. "Über Demokratie zu reden, muss überall möglich sein - auch auf dem Land, ob in Biberach in Baden-Württemberg oder in einem Dorf in Brandenburg."

Kalte Schultern für das Kalifat: Willkommenskultur zuschanden

Vorbei sind die Tage, in denen die Innenministerin die Frage nach der Zugehörigkeit des Islam als politischer Religion endgültig beantwortet hatte.

Sie waren noch nicht ganz von der Straße, da hatte Deutschland, da hatte vor allem das politische Berlin der Rechtspopulisten ein neues Lieblingsthema gefunden. Die Innenministerin forderte ein "hartes Einschreiten des Staates" und kündigte unverhohlen an, selbst "hart gegen Terrorpropaganda vorgehen" zu wollen. Der Bundeskanzler griff zur allerschärfsten Waffe: Er werde "Konsequenzen" prüfen, sagte Olaf Scholz und er fand offene Ohren überall. Nicht einmal die Taz widersprach. Nein, stattdessen griff das ehemalige Zentralorgan der Willkommenskultur zum Nazivergleich.  

Aufmarsch ohne Waffen

Unversehens waren die mehr als tausend Menschen, die mit ihrem islamistischen Aufmarsch in Hamburg nur von Artikel 8 Grundgesetz Gebrauch gemacht hatten, der alle Deutschen das Recht gibt, "sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln", Feinde von allem, was dem Rest der Gesellschaft so viel wert ist. Ein paar Meter im Kreis Gleichgesinnter reichten, um Menschen, die in anderen Zusammenhängen als "gebürtige Deutsche", "Hamburger" oder "Deutsch-Syrer" bezeichnet würde, auszugrenzen und zur Zielscheibe von gezielt geschürtem Volkszorn zu machen.

Dass in Hamburg, einer Stadt, die sich viel auf ihre Liberalität einbildet, 1.000 Islamisten für ihre Vorstellung einer funktionierenden Gesellschaft demonstrieren, wird als "erschreckend" gebrandmarkt. Eine Parole wie "Kalifat ist die Lösung" gilt als so "unerträglich", dass sie angeblich "eine massive Reaktion des Staates" erfordert, obwohl sie letztlich kein bisschen bizarrer ist als "Sozialismus ist die Lösung", "Europa ist die Lösung", "Jesus ist die Lösung" oder "direkte Demokratie ist die Lösung" und "One Solution - Revolution" .

Erlaubte krude Thesen

Das alles darf geglaubt, es darf gesagt und die eigene Überzeugung, damit goldrichtig zu liegen, darf dank der deutschen Verfassung öffentlich bekundet werden, so lange die Anhänger der jeweiligen kruden Thesen ihre Auffassungen nicht "nachhaltig und aggressiv kämpferisch" vertreten. Das ist ja gerade der Clou an der Meinungsfreiheit: Dass ihr "Schutz nicht unter einem inhaltlichen Vorbehalt steht, sondern für Meinungsinhalte aller Art und Güte gleichermaßen" (Lothar Michael) gilt. 
 
Wer für ein Himmelreich auf Erden eintritt, darf das tun. Wer sich ein Königreich der Herzen wünscht, ein sozialistisches Paradies, die Rückkehr zur Planwirtschaft, eine  Degrowth-Gesellschaft, eine Enteignung aller Millionäre, regelmäßige Geschlechterwechsel, legale Abtreibungen oder deren verbot, Mindestlohn für alle, die Begrenzung des Privatbesitzes auf das, was jeder tragen kann, oder eine Pflicht zum regelmäßigen Haarschnitt, war bisher goldrichtig in Deutschland. Weil die Meinungsfreiheit für die Demokratie "schlechthin konstituierend", wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigt hat, hängt der von Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz gewährte Schutz "nicht davon ab, inwieweit Meinungen einen mehr oder weniger positiven Nutzen für die Demokratie haben".

Populisten gegen das Grundgesetz

Eine Seite der Verfassungsordnung, gegen die Populisten nun überall plötzlich mobil machen. "Wem ein Kalifat lieber sein sollte als der Staat des Grundgesetzes, dem steht es frei auszuwandern", hat Justizminister Marco Buschmann geschrieben, denn "Wir leben in Deutschland in einem Rechtsstaat. Wer hier das Kalifat ausrufen will, gehört nicht zu unserem Land. Hier in Deutschland gilt das Grundgesetz!" Auch die Bundesinnenministerin schlägt in dieselbe Kerbe: "Wer ein Kalifat will, ist in Deutschland an der falschen Adresse", droht sie den Demonstranten mit dem üblichen "harten Vorgehen". 
 
Die Frankfurter Rundschau flankiert die Drohung mit einer populistischen Volte: Allein "die Losung ,Kalifat ist die Losung' richtet sich gegen das Grundgesetz, sie gibt streng religiöse Regeln einer Minderheit in einer christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft vor, deren Verfassung in Weltanschauungsfragen neutral ist". Das erfordere "eine massive Reaktion des Staates", etwa durch "die Ausweisung von Demonstranten, die nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen". 

Wie im Geheimplan

Verfassungsfremde Fantasien von einer gesäuberten Gesellschaft aus lauter strammen Demokraten werden dort ausgebreitet, als schütze die Meinungsfreiheit nicht ausdrücklich auch "verfassungsfeindliche Ideologien und religiösen Fundamentalismus" (Johannes Masing). Um bei denen zu punkten, die dort, wo es ihnen unerträglich wird, andere Meinungen und andere Lebensweisen auszuhalten, sofort nach Verboten und Abschiebungen rufen, wird die Axt ans Prinzip der Toleranz gelegt und die Säge in den Ast gesenkt, auf dem das demokratische Gemeinwesen sitzt. 
 
Die Frankfurter Rundschau versteigt sich am Ende sogar zur Forderung, dass eine "Aufenthaltsgenehmigung lediglich haben dürfen sollte, wer sich zu den Werten des Grundgesetzes bekennt" - eine vom EuGH längst zurückgewiesene Forderung, die direkt an den Vorstellungen anknüpft, die als zentraler Teil des "Geheimplans gegen Deutschland" zuletzt und zurecht für so viel Empörung gesorgt hatten.

Mittwoch, 1. Mai 2024

Picknick am Ende des Kapitalismus

Die letzten Kommunisten nutzen das verschwenderische Campingstuhlangebot des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus, um bequem Stellung zu beziehen.

Es ist zu warm, es ist viel zu früh für den Sommer. Und doch ist er da, wiedermal überpünktlich und wie zuletzt so oft begleitet von einer Wolke aus Saharastaub. Dazu aber weht Hoffnung durch das von Zweifeln geplagte Land. Der Winter des Missvergnügens, als Bauern rebellierten, die Regierungsbemühungen um Frieden, Fortschritt und eine sichere Energieversorgung verhöhnt wurden und es zeitweise schien, als seien sämtliche Kabinettsmitglieder und Führungspersönlichkeiten der demokratischen Parteien im Wahlkampfeinsatz für die Feinde der Demokratie, er ist beendet.

Frühlingserwachen

Frühlingserwachen in der Wirtschaft, die alle Wachstumsprognosen mal eben doppelt überboten hat. Hoffnung auf ein neues Sommermärchen mit einer wie immer zumindest vorab titeltauglichen Elf. Die Angriffe auf die Aufarbeitung der Pandemie abgewehrt, die Versuche, den Atomausstieg madig zu machen, verpufft. Pünktlich zum Start in den Europa-Wahlkampf hängen Plakate überall, aber keine Schultern mehr nirgends. Deutschland bricht auf in eine vielversprechende Zukunft. Der Wähler dankt es und kehrt zurück zum Lagerfeuer der Demokraten. Die SPD liegt wieder vor der AfD, die Linke berappelt sich bei stabilen drei Prozent und alte wie neue Populisten verlieren je ein Prozent. 

Die sich lustig machten über eine Regierungsmannschaft, die sich alle Mühe gab, den Nachweis anzutreten, dass sie nicht nur keine Schnürsenkel binden, sondern auch mit Klettverschlüssen überfordert ist, sie müssen nun Abbitte leisten. Nachdem die FDP sich entschlossen hat, ihr Heil nicht in der Flucht zu suchen, steht die Koalition wie festgemauert in der Erden. 

Guter Rat vom Klassiker

Nun, rät der Dichter, "bis die Glocke sich verkühlet, lasst die strenge Arbeit ruhn, wie im Laub der Vogel spielet, mag sich jeder gütlich tun." Das klingt nach grundlosem Grundeinkommen und Work-Life-Balance, nach Arbeitstagen und hohem Mindestlohn. Laub ist zwar nicht da, jahreszeitlich bedingt. "Doch den sichern Bürger schrecket nicht die Nacht, die den Bösen grässlich wecket, denn das Auge des Gesetzes wacht." Die bundesweiten Reaktionen auf das Verlangen nach der Errichtung eines Kalifats haben es gezeigt: So nicht! Schnell werden da "Konsequenzen geprüft" (Olaf Scholz) und Sätze gesprochen, in denen "die ganze Härte des Gesetzes" (Nancy Faeser) vorkommt.

Ein frühsommerliches Picknick am Ende des Kapitalismus, die Luft ist lau, der Höllenschlund der Klimahitze noch ein uneingelöstes Versprechen. Selbst die letzten Kommunisten zieht es in die öffentlichen Parks, wo sie das verschwenderische Campingstuhlangebot des Imperialismus, jenes letzten, höchsten und zerstörerischsten Stadiums des Kapitalismus, gern nutzen, um bequem Stellung zu beziehen im Klassenkampf.

So ein schönes Ende

Hätte jemals jemand vorhergesagt, dass es so schön zu Ende geht, langsam und gemächlich, unaufgeregt und ohne dass allzu oft mit den Gefühlen der Menschen Schindluder getrieben wird, er wäre ausgelacht worden. Eine Endzeit stellten sich viele, geschult an fürchterlichen Filmen, apokalyptisch vor. Die Einschläge kommen näher. Die Regale leeren sich. Die Stimmung ist angespannt, aber denkbar schlecht. Keiner vertraut mehr niemandem. Es wird gelogen und betrogen, ausgegrenzt und manipuliert, Angst verbreitet und mit Versprechungen nicht gegeizt, so glaubten Bürgerinnen und Bürger, für die es das erste Mal ist, dass sie einem Schlussakkord lauschen dürfen.

Das hier kann es also noch nicht gewesen sein. 

1. Mai: Losungen statt Lösungen

Der 1. Mai ist für viele ein Tag, an dem Mailosungen auf die Straße getragen werden.


Es ist wieder so weit. Sogar Yasmin Fahimi, ehemals führende SPD-Politikerin und nach ihrem Wechsel auf eine parlamentarische Hinterbank schließlich zur DGB-Vorsitzenden gewählt, tauchte unverhofft, um neue Forderungen anzukündigen. Mehr für weniger!  

Mehr für weniger

Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit, das seien die zentralen Forderungen der Gewerkschaft im zweiten Jahr der Krise. Dazu gehöre ein Mindestlohn von 14 Euro, 13 Prozent rauf, das Geld ist ja da und wenn nicht, dann muss es gedruckt werden. Beinahe schon schäbig, wie die Gewerkschafterin mit den fünfstelligen Monatsgehalt die Armen abfinden will: Selbst die Grünen und die SPD sind da ganz bei ihr. Die Linke hingegen lässt sich nicht lumpen und fordert wenigstens eine Anhebung auf 15 Euro pro Stunde

Der 1. Mai als "Tag der Arbeit", das war einmal. Heute ist er frei, ein Datum mit viel Platz für  Forderungen nach einer stärkeren Work-Life-Balance, Unternehmens-Benefits und einer Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich. Aus der Sehnsucht der werktätigen Massen nach einem eigenen arbeitsfreien Tag, den erst Adolf Hitler erfüllte, wurde ein Brückentag, den die einen für den ersten Biergartenbesuch nutzen. Die anderen aber, indem sie die von der SED in der DDR erst zu voller Blüte gebrachte Tradition der Mai-Demos pflegen. 

Kampf- und Feiertag der Werktätigen

Der "Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus", er ist nicht mehr. Aber gerade in Berlin, wo inzwischen mit 42,6 Prozent nur noch eine kleine Minderheit der arbeitsfähigen Bevölkerung einer regelmäßigen Arbeit nachgeht, wird gefeiert wie einst beim Honecker: Alle auf die Straße, rot ist der Mai! Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit! 

Mehr Namen jedenfalls hat er schon. Aus Hitlers "Feiertag der nationalen Arbeit" wurde der "Nationale Feiertag des deutschen Volkes", den die föderale Bundesrepublik dann etwa wie Nordrhein-Westfalen  als "Tag des Bekenntnisses zu Freiheit und Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Völkerversöhnung und Menschenwürde" feiert, im einfach gestrickten Sachsen-Anhalt dagegen als "1.Mai" begeht, während Sachsen am "Tag der Arbeit" frei macht und Traditionalisten in Berlin beim "Revolutionären 1.Mai" Autos anzünden.

Scheitern mit Ansage

Der Versuch der früheren Linken-Chefin Katja Kipping, die Sache als "Tag der Gerechtigkeit" zu vereinheitlichen, musste scheitern. Zu gut ist der bisherige Markenname 1. Mai eingeführt. Doch die Tradition, mit offiziellen Losungen für mehr Gemeinsinn und Solidarität zu werben, gehört zum geistig-moralischen Erbe der Nation. Nicht mehr ein Zentralkomitee einer einzelnen Partei kümmert sich heute um dessen Erhalt, sondern eine Arbeitsgruppe aus Freiwilligen in der Berliner Bundesworthülsenfabrik (BWHF). Auch die diesjährigen Parolen bilden wieder ab, wohin die Welt sich gedreht hat. Bleibt nur zu hoffen, dass sie heute auf möglichst vielen selbstgemalten Plakaten bei den machtvollen Manifestationen der Arbeiter, Bauern und Angestellten zu sehen sein werden.

Gruß und Dank allen Werktätigen, die den Wiederaufbau der EU voranbringen! Eure großen Leistungen prägen das hohe Ansehen unserer Republik in der ganzen Welt!

Werktätige der Industrie und Landwirtschaft! Vater Staat statt Kalifat! Vorwärts zu neuen Erfolgen in der Transformation! Dem Volke zum Nutzen – der Republik zu Ehren!

Beschäftigte in den Turnaround-Unternehmen der Industrie! Seid Bahnbrecher im Kampf um wissenschaftlich-technischen Höchststand! Arbeitet, lernt und lebt nachhaltig und CO2-sparend!

Tätige der Landwirtschaft! Wetteifert um hohe Erträge und niedrigen Einsatz von Energie, Fläche und Schädlingsbekämpfungsmitteln! Weniger Fleisch und Milch und mehr einheimisches Getreide für unsere Supermärkte!

Unverbrüchliche Freundschaft mit der Ukraine, Israel und den Menschen im Gaza-Streifen! Für und gegen Waffenlieferungen, für und gegen Waffenstillstandsverhandlungen!

Solidarische Grüße dem ukrainischen Volk, das heldenhaft seine Freiheit gegen die russischen Aggressoren verteidigt!

Vorwärts zur EU-Wahl! Alles mit dem Volk – alles durch das Volk – alles für das Volk!

Frauen und Mütter! Der Green Deal dient dem Glück Eurer Familien! Legt in die Herzen Eurer Kinder die Liebe zu den gemeinsamen Werten der Union!

Dienstag, 30. April 2024

Rebellion der Rentner: Fantastische Verschwörung

Der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Umsturz atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn.
Der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Umsturz atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn.

Sie hatten sich Flinten zugelegt, Handschellen und Helme, dazu mehr als 140.000 "Waffenteile" (DPA), mit denen beim Angriff auf den Bundestag nach den Hauswachen des Sicherheitsdienstes geworfen werden sollte. Empfohlen worden war diese Strategie wohl vom Transkommunikationsteam, einem Heiler, einer Hexe und einer Kaffeesatzleserin, auf die die Prinzen Reuß seit Hunderten von Jahren schwören.

Auf die Schliche

Nicht vorhergesehen aber hatten der Rat der Weißen der Befreiungsarmee des im Thüringer Exil lebenden Reichskanzlers in spe, dass die aktuell zuständigen deutschen Behörden den Umtrieben der reichsbürgerlichen Umsturzbewegung frühzeitig auf die Schliche kommen könnten. Zwar war die Aufstandsbewegung schon so weit gewachsen, dass in einem nächsten Schritt zumindest Heimatschutzkompanie Nummer 221 von geplanten 280 hätte beginnen können, "eigenständig" (Der Spiegel) nach jungen Leuten zum Mitreisen zu suchen. 

Insgesamt aber befand sich die "Reuß-Gruppe" (Die Zeit) wohl noch in einem frühen Stadium der Machtübernahme. Auf "Basis der Ideologie der sogenannten Reichsbürger" (Tagesschau) war ein "gewaltsamer Umsturz geplant", der 73-jährige Heinrich XIII. Prinz Reuß hatte seine "terroristische Vereinigung" gegründet und seinen Sturm auf den Reichstag geplant, an dessen Sicherung durch einen breiten und tiefen Burggraben seit dem Angriff der Impfgegner mit Deutschland-Tempo gearbeitet wird. Doch wie genau es weitergehen sollte nach der Machtergreifung und den anschließenden Erschießungen gemäß einer von der Vereinigung geführten "Feindesliste", müssen die Prozesse ermitteln, deren erster nun an historischer Stätte in Stammheim begonnen hat.

Fantasten als Gefahr

Spinner oder Staatsfeinde oder beides? Das Verfahren mit dem Aktenzeichen 3 St 2 BJs 445/23, kurz "Reichsbürgerprozess" genannt, verblüfft zum Auftakt mit Superlativen. 600 Seiten Anklage, 400.000 Blatt Beweise, 270 Polizisten als Zeugen, Verhandlungen an drei Oberlandesgerichten gegen drei Verschwörergruppen mit Namen wie "militärischer Arm" und "Rädelsführer" , Verfahrensdauer ein oder zwei oder drei Jahre, genau wird man es nachher wissen. Wie auch, ob die Fantasten um den Prinzen aus dem Seitenzweig einer erloschenen Linie eines Provinzfürstengeschlechts aus Thüringen wussten, was sie tun wollten, oder ob sie sich nur gegenseitig versicherten, dass ihr Wahn Wirklichkeit sei.

Die Geschichte der Roten Armee Fraktion, die als bisher personalstärkste, mordlustigste und ideologisch gefestigste Terrorgruppe der bundesdeutschen Historie Dutzende Menschenleben opferte, um eine bessere Welt herbeizuschießen und zu bomben, belegt die Wirkungsmacht kollektiver Halluzinationen. Mag auch alles dagegensprechen, ein fester Glaube, sorgfältig in einer überschaubaren Gruppe gepflegt, ersetzt die Realität vollständig.

Falsche Assoziationen

Wer dabei unversehens an die Katholische Kirche, die Anhänger des Kalifats oder des Veganismus, die Grünen, die Linke, die FDP oder die SPD denkt, liegt vollkommen falsch. Die gewählten Mittel zum Zweck trennen legitime Versuche der Veränderung der Gesellschaft von Angriffen "krimineller Banden" (DPA): Die einen setzen auf Geduld, den langen Marsch durch die Institutionen, der zu den Hebeln der Macht führt. Die anderen wollen die Schaltzentralen stürmen, um ein blutiges Scherbengericht über die Demokratie abzuhalten. 

Das eine ist erlaubt und immer wieder erfolgreich. Das andere ist noch nie geglückt, zieht aber gesellschaftliche Außenseiter magisch an. Auch der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Aufstand atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn. 

Die blutigen Angriffe der RAF auf den gesellschaftlichen Frieden waren noch ein "Krieg von 6 gegen 60.000.000" (Heinrich Böll), den verstehen konnte, wer die Bild-Zeitung las und zum Urteil kam, dass sie "nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid" sondern "nackter Faschismus" mit "Verhetzung, Lüge, Dreck" war. Doch ein halbes Jahrhundert danach geht es nicht mehr um die Rebellion junger Leute, die sich erstmal die Hörner abstoßen müssen, sondern um einen Aufstand alter Männer und Frauen, denen die "ganze Richtung" nicht passt (Christian Daniel Schubart).

Opfer von Kleinkrimineller

Unter der Fahne von Esoterik und Aberglauben, angeführt von einem Rat aus renitenten Rentnern, die sich von einer Hofastrologin und einem "Seher" beraten und von Schweizer Kleinkriminellen um sechsstellige Summen bringen ließen, zeigt sich die mutmaßliche Terrorgruppe schon am Anfang des größten Prozesses, der in Deutschland jemals gegen die Planer eines Staatsstreiches durchgeführt wurde, als wirrer Verein von Fantasten. Drei Dutzend Leute, beseelt von "einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen und Erzählungen der Reichsbürger sowie der QAnon-Ideologie" (Die Welt) wollten die Machtfrage stellen, bewaffnet mit "Neun-Millimeter-Pistolen" (DPA), Vorderladern und Flinten nebst "350 Hieb- und Stichwaffen" (Tagesschau), nicht zu vergessen auch "Elektroschocker, Gefechtshelme und Nachtsichtgeräte". 

Ein Staat, der solche Feinde fürchten muss, hat ganz andere Probleme.

Armin Laschet: Der Reserveheld

Armin Laschet ist wieder da - als Kanzler der Herzen
Er wollte Angela Merkel beerben, scheiterte aber an einem falschen Lachen. Nun ist Armin Laschet wieder da: Die "Zeit" rühmt ihn bereits als "Kanzler der Herzen". Zeichnung: Kümram, Aquarell

Ausgelacht, verhöhnt und abgestraft. Kleinlauf verließ CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet nach der letzten Bundestagswahl die politische Bühne. Der Hoffnungsträger für eine nächste langandauernde Kanzlerära nach Angela Merkel war zum Martin Schulz der CDU geworden. Hochgelobt. Gerühmt und vergöttert. Und dann, nach einem einzigen echten Lachen an der falschen Stelle, niedergeschrieben und niedergemacht von denselben Adressen, die zuvor vergeblich versucht hatten, ihn einem störrisch widerstrebenden Wahlvolk schmackhaft zu machen.

Der Vati nach der Mutti

Der kleine Mann, der der Vati nach der Mutti hatte sein wollen, aber in Schuhen durch die Wahlkampfmonate schlurfte, die ihm sichtlich viel zu groß waren, tauchte ab. Seine Partei stellte ihm den Stuhl vor die Tür. Weil die Kanzlerin, die ihn aufs Schild hatte heben lassen, nicht mehr greifbar war, musste er die Schuld schultern. Seinen Posten als Ministerpräsident hatte er in die Waagschale geworfen. Nun blieb ihm nichts als ein kalter Platz auf einer Hinterbank, ein Büßerposten ohne Macht, denn die hatte nun doch Friedrich Merz erobert, der ewige Endgegner der Merkelianer.

Kalter Entzug. Zwar wurde Armin Laschet schon bald nach seinem kaum betrauerten Abschied aus Politik und Öffentlichkeit mit dem Posten eines Vizepräsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates abgefunden. Doch damit war der damals erst 61-Jährige einer von 20 Stellvertretern eines Vorsitzenden namens Rik Daems, der in dem nur wenigen Europäern bekannten Organ von Vertretern aus 46 nationalen Parlamenten des europäischen Kontinents kaum für sich selbst genug Arbeit findet.

Konsequent in die Mitte

Laschet hat dann noch das Amt des Vorsitzenden des Kuratoriums der RAG-Stiftung übernommen. Und sich ins Direktorium des Aachener Karlspreises wählen lassen. Doch rehabilitiert wird der Christdemokrat, der die CDU mit einer selbstausgedachten neuen Definition von "rechts" konsequent in die Mitte hatte rücken wollen, erst jetzt, endlose zweieinhalb Jahre nachdem er die Union zum schlechtesten Wahlergebnis aller Zeiten geführt hatte. Dafür jedoch mit aller Kraft: Seit Wahlforscher der CDU ein "Merz-Problem" attestieren, weil der neue starke Mann sämtliche Wähler rechts von Grünen, SPD und Linkspartei mit seinen Zahnfee-Thesen und Abschiebefantasien verschreckt, wird der knuddelige Aachener aus dem "Abklingbecken" (RP) gehievt.  

"Lusche Laschet" (Friedrich Küppersbusch) ist jetzt der "Kanzler der Herzen" (Die Zeit), eine echte Type, nach das Medienvolk "Sehnsucht" (Tagesspiegel) hat, weil er "dem überforderten AfD-Chef Tino Chrupalla bei Maybrit Illner im ZDF" mutig das Wort "Landesverrat" entgegenschleudert und den AfD-Europaspitzenkandidaten Maximilian Krah tapfer "geißelt", weil er vor der "Wiederholung der Geschichte" (Die Glocke) warnt und sich nicht von Unschuldsvermutungen und ähnlichem Kram abhalten lässt von seiner Forderung einer "Brandmauer gegen Verräter".

Der Lichtbringer

So einen bräuchte man jetzt, an allen Fronten, an der Ostflanke, im Kabinett. Einen, der nicht nur den  Namen Armin trägt, der aus dem Hermundurischen kommt und "Lichtbringer" oder auch "Erleuchter", heißt, sondern mit der eigenhändigen Umbenennung des alten "christlichen Menschenbildes" der CDU  in ein "christdemokratisches Menschenbild"schon bewiesen hat, dass ihm entschlossenes Handeln nicht fremd ist. 

Dem derzeitigen CDU-Chef Friedrich Merz jedenfalls erwächst mit der Rückkehr Laschets ein  alter neuer ernsthafter Rivale: Laschet hat noch oder wieder viele Freunde in den Großredaktionen, viele dort wissen auch, wie viel sie ihm wegen der hämischen Hohnattacken im Wahlkampf noch schuldig sind. Wie bei den Grünen Habeck und Baerbock sich anschicken, in den Nahkampf um den begehrten Spitzenkadidatenposten zu gehen - die eine Verliererin beim letzten Mal, der Konkurrent Reserveheld - könnte es auch bei der Union kommen. 

Und selbst wenn sich Merz durchsetzt: Armin Laschet ist fünf Jahre jünger. Er kann warten.